forward | back | up: 3 Unsere Studientexte

3.11 Gesamtanlage des Curriculums (Leseprobe)

Im Folgenden drucken wir die Zusammenfassung aus dem Studientext ,,Informatik und Gesellschaft - eine Einführung'' ab. Wir wollen Ihnen damit nicht nur eine Leseprobe, sondern auch eine Einführung in unser Curriculum an die Hand geben, die die einzelnen Studientexte enger miteinander in Beziehung setzt. Autor: Detlev Krause.


[Zusammenfassung zum Studientext:] Am Anfang dieses [Einleitungs-] Studientextes standen die Fragen des Wozu (sich mit I&G beschäftigen) und des Wie (lassen sich die Erkenntnisse praktisch anwenden). Darauf müssten Sie jetzt vielfältige Antworten geben können - und trotz dieser Vielfalt wird es Ihnen womöglich so gehen, dass Sie gerade nicht das Gefühl haben, etwas gelernt zu haben. Schließlich gab es immer wieder die Botschaft: man kann das auch anders sehen - eine Lösung gibt es nicht - viele Perspektiven sind möglich.

Ungeduldige Gemüter sind uns deshalb vielleicht schon während der Lektüre der einzelnen Kapitel verlorengegangen. Alle Anderen dürfen wir auffordern, aus der Not eine Tugend zu machen! Wenn es schon eine Reihe unterschiedlicher Wahrnehmungsmöglichkeiten gibt, wenn es weiterhin verschiedene Perspektiven auf das Gestaltungsproblem gibt, außerdem eine Auswahl möglicher Methoden der Modellbildung und schließlich die Aufforderung, selbst noch das zu gestaltende informatische Produkt offen für Veränderungen von außen zu halten, dann sollten Sie diese Vielfalt nutzen.

Unser Informationsprodukt - die Studientexte - haben wir ebenfalls zunächst als Erprobungsfassungen eingesetzt, an denen die Studierenden Kritk üben konnten. Ihre Anregungen sind dann in die Endfassungen mit eingegangen. Unser Leitbild besteht also nicht im Beharren auf einmal erstellten Fassungen (und Auf-Fassungen) - ob es sich nun um Software oder Studientexte handelt -, sondern in der Prüfung des Bestehenden an den sich verändernden Erwartungen der Nutzer/innen, in diesem Fall also Ihren Erwartungen. Dies gilt auch für die weiteren Studientexte dieser Reihe.

Die weiteren Studientexte vertiefen die Thematik, in die Sie hier überblickshaft eingeführt wurden. Sie tun dies jedoch auf ihre je eigene Weise, weshalb Abwechslung in Stil und Argumentation garantiert sind. Indem wir jetzt die Einführung noch einmal zusammenfassen, wollen wir Ihnen gleichzeitig eine Vorschau auf die Inhalte der gesamten Reihe geben.

Am Anfang dieser Einführung stand die Botschaft, dass I&G sowohl für die Praxis als auch für die Wissenschaft von Nutzen ist. Der Studientext ,,Informatik als Praxis und Wissenschaft'' trägt diese doppelte Perspektive schon im Titel. Christiane FLOYD und Herbert KLAEREN stellen genauer dar, welche erkenntnistheoretischen Überlegungen der Informatik zugrunde liegen und führen damit über die in dieser Einführung erläuterte Unterscheidung von kritisch-dialektischer und analytisch-empirischer Erkenntnisweise hinaus. Auf die Praxis bezogen vertiefen sie die Interpretation von Informatik als Gestaltungswissenschaft.

I&G verbindet die formalen Methoden (Stichwort: Algorithmus) und die Konstruktionsorientierung (Stichwort: Ingenieurswissenschaft) mit der Frage nach der sozialen Einbindung ihrer Produkte. Es geht um die Zweckmäßigkeit des Einsatzes von Informationstechnik, wobei hier auch Zwecke gemeint sind, die keineswegs formaler Natur sind (wie lebendige Kommunikation, die nicht nur Austausch von Informationen ist; Anpassung von Arbeitsabläufen an die Bedürfnisse der Beschäftigten; Möglichkeit der Mitgestaltung und des Eingriffs durch die Anwender/innen von Informationstechnik). In dieser Einführung wurde immer wieder deutlich gemacht, dass es nicht um eine Kritik der am Algorithmus orientierten Informatik an sich geht, sondern dass diese Perspektive ergänzt werden muss. Der Diskurs muss hinzukommen. Empfohlen wird in diesem Sinn der produktive Streit um Leitbilder, Methoden und die Angemessenheit von Modellen.

Diese Fragen werden von Fanny-Michaela REISIN im Studientext ,,Über Informatik reden'' aufgenommen. Die hier schon aufgeworfenen Begriffe des Perspektivwechsels oder der Multiperspektivität werden dort detaillierter vorgestellt und in ihrer Bedeutung für Softwaregestaltung erläutert (am Beispiel von use cases). Im zweiten Teil des Studientextes vertieft Ortwin RENN die Thematik des Diskurses. Er schildert sowohl das traditionelle Verständnis von Informationsvermittlung als Signalübertragung als auch das erweiterte Verständnis der Sozialwissenschaften, das für die Informatik wichtiger wird, weil sie die Medien der privaten und öffentlichen Kommunikation konstruiert.

Die Fallbeispiele Krankenhaus und Softwarequalität haben die Schwierigkeiten beleuchtet, die beim Einsatz von Informationstechnik in der Arbeitswelt entstehen. Eine mangelnde Einbeziehung der Anwender/innen, das fehlende Wissen um Organisationsstrukturen und das kritikwürdige Leitbild der Beherrschbarkeit waren dabei einige wichtige Punkte. Der Studientext ,,Informatik in der Arbeitswelt'' erweitert die Frage nach der sinnvollen Gestaltung von Informationssystemen im Produktions- und Dienstleistungsbereich. Peter BRÖDNER verfolgt ebenfalls den Gestaltungsansatz. Er stellt arbeitswissenschaftliche Leitlinien vor und geht auf verschiedene Methoden der Softwaregestaltung im Arbeitsprozess ein. Hauptausgangspunkt ist die These des Produktivitätsparadox, nach der sich der Einsatz von Informationstechnik weder als kostensparend noch als gewinnbringend herausgestellt hat [...].

Wofür und in wessen Interesse stellen Informatiker/innen Produkte her? Welche Verantwortung kommt Informatiker/innen überhaupt zu, und wo endet sie? Diese Thematik wird von Konrad OTT und Johannes BUSSE im Studientext ,,Ethik in der Informatik'' eingehender vorgestellt und diskutiert. Dabei wird ein Überblick über die verschiedenen Ansätze der Ethik als Moraltheorie gegeben. Die Autoren gehen auch auf die für die Informatik relevanten Themen Technikethik und Computerethik ein.

Um der Konstruktion von informatischen Produkten eine Richtung zu geben, sind Leitbilder von entscheidender Bedeutung. Dies gilt sowohl für den konkreten Fall eines Softwareentwicklungsprojekts als auch für den allgemeineren Fall einer Gesamtorientierung der Informatik. Im Softwareentwicklungsprojekt müssen Leitbilder aufgestellt und diskutiert werden, um alle Beteiligten und Betroffenen in den Prozess der Gestaltung einzubinden und den Zweck des Technikeinsatzes nachvollziehbar zu machen.

Im Sinne des hier [im einleitenden Studientext] vorgestellten Akteurskonzepts wird die Auseinandersetzung um die unterschiedlichen Leitbilder der einzelnen Akteure für sinnvoll erachtet. Dies lässt sich sowohl für das Verstehen als auch für den Prozess des Herstellens nutzen. In der öffentlichen Diskussion um Informatik und um Informationstechnik lassen sich Akteure ausmachen, die ihre kollektiven Interessen vertreten, und im einzelnen Softwareentwicklungsprojekt gibt es ebenfalls Akteure, die eine bestimmte Vorstellung des Technikeinsatzes vertreten (oft in Gestalt eines Leitbilds).

Der Studientext von Heidi SCHELHOWE ,,Technikentwicklung als sozialer Gestaltungsprozess'' bietet eine Reihe praktischer Beispiele und Diskussionsansätze, die diese Sichtweise vertiefen. Er stellt anhand ausgewählter Literaturausschnitte die Eignung bestimmter Leitbilder in der Informatik und für die Systemgestaltung im engeren Sinn in Frage. Außerdem führt er in die Diskussion um Technikfolgenabschätzung ein. Sie wurde im vorliegenden Studientext ebenfalls thematisiert. Technikentwicklung wurde dabei nicht als ein Prozess gesehen, der seiner eigenen Sachlogik folgt, sondern als Techniknutzungspfad verstanden, der nicht sicher vorhergesagt werden könne und immer das Ergebnis der offenen Auseinandersetzung um konkurrierende Leitbilder bildet.

Zu den zentralen Akteuren bei der Technikanwendung gehören die Nutzer/innen. Sie werden im vorliegenden Studientext immer wieder genannt, aber selten konkret umrissen. Diese Lücke füllt vor allem der Studientext Informatik im persönlichen Leben. Die Autoren Roland ECKERT, Thomas WETZSTEIN und Herrmann DAHM zeigen, wer aufgrund welcher Motive Informationstechnik nutzt und wie sich Öffentlichkeit und Politik daraufhin verändern. Der Studientext ergänzt den Studientext ,,Ethik in der Informatik'', weil er stärker die politische Bedeutung der Computernetze beleuchtet.

Eine ähnliche Richtung schlägt der Studientext ,,Möglichkeiten und Gefahren der ,Informationsgesellschaft`'' von Herbert KUBICEK ein, wobei jedoch der Autor den Akzent auf die nationalen und internationalen Hintergründe und politischen Konzepte legt, die dem plakativ verwendeten Begriff der Informationsgesellschaft zugrunde liegen. Er klärt über die Entstehung und Geschichte des Begriffs auf und diskutiert die aktuellen Handlungs- und Konfliktfelder aus ökonomischer, juristischer und gesellschaftspolitischer Sicht.

Informatik ist Männersache - zumindest in Deutschland. Wie es dazu kommen konnte, warum es anderswo nicht so ist und welche wichtige Rolle Frauen in der Geschichte der Informatik spielten, ist Thema des Studientextes ,,Informatik und Geschlechterdifferenz''. Britta SCHINZEL, Nadja PARPART und Til WESTERMAYER ergänzen das Curriculum der Tübinger Studientexte damit um diese zentrale Perspektive.

I&G, das zeigen die verschiedenen Ansätze der Studientexte, kann man auf unterschiedliche Art verstehen und praktizieren. Das Wie ist demnach ein offenes Angebot an Sie, sich den Fragen zu widmen, die Ihnen am wichtigsten erscheinen. Verstehen Sie sich dabei nicht als bloßen Konsumenten von Lehrmaterialien und Texten, sondern machen Sie die Kritik von I&G an der Informatik (und Ihre eigene Kritik an der Kritik) lebendig, indem Sie mit den vorgeschlagenen Methoden experimentieren, die unterschiedlichen Perspektiven probehalber einnehmen und Ihre Erkenntnisse dort umsetzen, wo es praktisch wird. Es wird für Sie dann schnell deutlich werden, was sie hier eigentlich lernen konnten.

Und das Wozu lässt sich abschließend an folgendem Zitat aus der Erstfassung dieses Studientextes zusammenfassen:

Informatiker/innen sind Teil des sozialen Ganzen - unabhängig davon, wie einsam der oder die einzelne sich manchmal fühlen mag. Sie arbeiten nicht im luftleeren Raum, sondern finden in ihrem Arbeitsalltag soziale Bedingungen vor, zu denen sie sich ständig verhalten. Damit schaffen sie, zusammen mit Anderen, Voraussetzungen für nachfolgendes Handeln - für sich und für alle Anderen. Die Verbindung von Individuum und Gesellschaft vermittelt sich über die Informatik-Arbeit und alle Aktivitäten, die damit im Zusammenhang stehen, wie etwa Studium oder Verhalten in der Öffentlichkeit. Wissenschaftlich gesprochen: Durch die Arbeit ist das Individuum permanent an der Reproduktion der Gesellschaft und damit seiner eigenen Handlungsbedingungen beteiligt.

Detlev Krause


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Johannes Busse, August 10, 1999